Beitrag über Leonhard Frank und seine Briefe aus dem Exil im "Journal der Künste", Heft 13, Publikationsreihe der Akademie der Künste, Berlin 

Planmäßige Wühlarbeit gegen den Krieg

Leonhard Franks Buch "Der Mensch ist gut" - ein fast vergessenes Mahnmal des Pazifismus


 erschienen bei literaturkritik.de, Februar 2016

 

Vor rund hundert Jahren, im Herbst 1916, mitten im Ersten Weltkriegs, saßen fernab der Schützengräben in der engen Stube eines Häuschens im kleinen Dörfchen Mannenbach am Bodensee zwei Schriftsteller zusammen. Der eine las aus einer Novelle vor, die er gerade geschrieben hatte, der andere, zugleich Herausgeber einer Zeitschrift, kommentierte: „Schnell in die Druckerei damit […] und hinaus mit den Heften […], daß sich das Echo runde!“ Im November dann war die Novelle veröffentlicht, sie umfasste nur wenige Seiten, trug den schlichten Titel „Der Kellner“ und erschien in den „Weißen Blättern“, einer in der Schweiz verlegten deutschen expressionistischen Zeitschrift. Ihr Herausgeber war der gebürtige elsässische Schriftsteller René Schickele.

 

Geschrieben hatte die kleine Erzählung Leonhard Frank, ein Autor, der heute nahezu vergessen ist. Im Jahr 1916 dagegen war er eine Berühmtheit, nachdem er 1914 für sein Romandebüt „Die Räuberbande“ gefeiert und ausgezeichnet worden war und ein Jahr später ein weiteres Buch nachgelegt hatte. Auf einem steinigen Weg, an dem an der einen oder anderen Gabelung so manches hätte schief laufen können und teils auch schief gelaufen war, hatte er es als Autodidakt aus ärmlichsten Verhältnissen mit seinen gesellschaftskritischen Texten zu einem der erfolgreichsten jungen Autoren des Kaiserreichs gebracht.

 

Die kurze Geschichte, die Frank 1916 in den „Weißen Blättern“ veröffentlichte, war eine flammende Anklage gegen den Krieg. Sie erzählt mit überwältigendem, heute fast befremdlichem expressionistischem Pathos von einem Kellner, der im Sommer 1916 die Nachricht erhält, sein Sohn sei gefallen, auf dem Felde der Ehre. „Ehre. Das war ein Wort und bestand aus vier Buchstaben. Vier Buchstaben, die zusammen eine Lüge bildeten von solch höllischer Macht, daß ein ganzes Volk an diese vier Buchstaben angespannt und von sich selbst in ungeheuerlichstes Leid hineingezogen hatte werden können. Das Feld der Ehre war nicht sichtbar. […] Es war das absolutes Nichts“. Der Kellner bricht zusammen, denn er begreift: Die beschwichtigenden Formeln der Kriegstreiber sind nichts als Phrasen, leere Hülsen. Und er erkennt, dass auch er durch eine falsche Erziehung hin zu Militarismus und Chauvinismus mit schuld ist am Tod seines Sohnes. So bringt er, christusgleich, seine Botschaft unter die Menschen, hält eine emphatische Rede vor einer Arbeiterversammlung und führt am Ende eine gewaltige Friedensdemonstration an. „Auf daß sich das Echo runde“, hatte René Schickele vor Veröffentlichung der Novelle prophezeit. Und nur einige Monate nach ihrem Erscheinen hallte das Echo von Franks Erzählung tatsächlich bis nach Deutschland, Paris und New York. Im „New York Herald“ wurde von einer legendären Lesung von Franks Novelle in den Berliner Räumen der Galerie von Paul Cassirer berichtet. Tilla Durieux, Cassirers Frau, erzählte über den denkwürdigen Abend später in ihren Memoiren. Dreihundert kriegsmüde Zuhörer – unter ihnen auch Käthe Kollwitz – waren von dem Inhalt der Novelle hingerissen, und so habe sich nach dem Vortrag „der ganze Saal wie ein Mann“ erhoben und „Friede! Friede!“ geschrien. Auch die konservative Presse reagierte prompt: Sie bezichtigte Frank unter anderem der „planmäßigen Wühlarbeit“ gegen Deutschland, weil er mit seinen Texten Herzen wanken mache. Die Folgen von Lesung und Medienecho für Durieux und ihren Mann: eine Hausdurchsuchung und ein Einberufungsbefehl für Paul Cassirer, der eigentlich als dienstuntauglich zurückgestellt worden war.

 

Ende  des Jahres 1917 erschien „Der Kellner“, jetzt unter dem Titel „Der Vater“, zusammen mit vier weiteren von Frank verfassten pazifistischen Novellen gesammelt in einem Buch. Der bezeichnende Titel: „Der Mensch ist gut“. Die Abschaffung des Kapitalismus, aber vor allem die Revolution der Liebe, der Nächstenliebe sei es, die zum Ende des Krieges führen könne. So Franks heute banal und auch etwas naiv anmutende, aber damals für viele Verzweifelte doch mutmachende, mächtige Botschaft. Frank glaubte oder Frank wollte mit tiefer Inbrunst glauben: Der Mensch ist gut, wenn man ihn lässt. Nicht zu Unrecht betonte ein zeitgenössischer Rezensent, die Novellensammlung sei das „leidenschaftlichste Buch gegen den Krieg […], das die Weltliteratur“ aufweise.

 

Und auch dieses Mal rundete sich das Echo, gewaltig, und das lange bevor es Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ gab. Auf verschlungenen Wegen gelangte „Der Mensch ist gut“ nach Deutschland, wo das Buch und einzelne Novellen verbreitet und illegal nachgedruckt wurden, zum Beispiel von der sozialistischen Schriftstellerin Susanne Leonhard. Für tauglich befundene Soldaten lasen es heimlich unter der Bank und zusammen mit einer weiteren Schrift weckte es in ihnen „den ersten bewußten Protest gegen den Krieg“, so der Schriftsteller F.C. Weiskopf. Romain Rolland, Literaturnobelpreisträger des Jahres 1915, erwähnte, „Der Mensch ist gut“ sei an Kriegsgefangene verteilt worden, und Johannes R. Becher, ein Freund von Frank aus frühen Münchner Bohème-Tagen, berichtete, eine Flugblatt-Broschüre einer der Erzählungen sei bei der Entlassung Karl Liebknechts aus dem Gefängnis verteilt worden, Tausende von Händen hätten danach gegriffen. Die Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Sophie Gallwitz erzählte: „Wem von uns in den großen Städten liegt nicht unter allen Erinnerungen an die wilden Monate des Winters 1918/19 auch die begraben, daß ihm im aufgeregten Herumschieben der aller Ordnung enthobenen Massen in der Straße eine kleine auf Löschpapier gedruckte Broschüre zugesteckt wurde, die diese Worte an der Stirn trug.“ – Der Mensch ist gut. Frank hatte sein Ziel erreicht. Sein Buch war geschrieben, ja ganz bewusst konzipiert als ein „direkt wirkendes Manifest gegen den Kriegsgeist“. Und als solches funktionierte es, zumindest für einen kurzen Moment der Geschichte.

 

Deutschland und die Schweiz feiern in diesen Tagen mit viel Tamtam und großem Medienrummel die Geburt des Dadaismus in den Räumen des Cabaret Voltaire in der Züricher Altstadt im Februar 1916. Doch es gab damals auch so etwas wie einen Gegenpart zu Dada. Hugo Ball berichtete 1917 von der Unterteilung der Schweizer Emigranten in zwei Gruppierungen, die „Ästhetiker“ und die „Moraliker“. Dada, das waren die Ästhetiker. Leonhard Frank, René Schickele und andere, das waren die Moraliker. Frank sagte über die Dadaisten später, sie seien „Flüchtlinge aus der schweren Zeit“ gewesen, weil sie in Zynismus geflohen seien. Darin steckt wohl ein wenig Wahrheit. Viele der Moraliker damals wiederum gingen mit so mancher Einschätzung, insbesondere, was den Siegeszug des Sozialismus betrifft, fehl. Dennoch scheint es in einer Zeit, in der Europa ins Taumeln geraten ist und in der für Deutschland allenthalben die mahnenden Worte von den Weimarer Verhältnissen anklingen, geboten, neben Dada auch an diejenigen zu erinnern, die sich vor hundert Jahren unüberhörbar politisch engagierten: für Völkerverständigung, für Menschlichkeit.

Weiterführende, wissenschaftliche Publikation

 

Katharina Rudolph: Viel mehr als ein Buch. Leonhard Franks "Der Mensch ist gut" - ein Werk und seine Wirkung, in: Felder der Ehre? Krieg und Nachkrieg in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, hg. von Michael Henke und Wolfgang Riedel (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie), Würzburg 2015, S. 103-120.